
In Deutschland ist das Recht auf Wohnen zwar nicht explizit im Grundgesetz verankert, dennoch stellt eine sichere Wohnung die Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe, Gesundheit und Würde dar.
Und doch leben nach aktuellen Zahlen des Bundes rund 531.600 Menschen in Deutschland ohne eigenen Wohnraum. Davon gelten rund 47.300 als obdachlos – sie leben auf der Straße, in Notunterkünften oder bei Freunden. Wohnungslosigkeit ist ein vielschichtiges Problem, das nicht nur soziale, sondern auch rechtliche Ursachen hat. Besonders gravierend wird es, wenn Kündigungen und Zwangsräumungen ohne wirksame Schutzmechanismen in die Obdachlosigkeit führen. Der Mieterschutz spielt hier eine entscheidende Rolle – doch er weist Lücken auf. Die aktuelle Diskussion über eine Reform der sogenannten Schonfristzahlung zeigt: Es besteht dringender Handlungsbedarf.
Ursachen für Wohnungslosigkeit
Wohnungslosigkeit entsteht aus einem komplexen Zusammenspiel struktureller und individueller Faktoren. Auf struktureller Ebene wirkt die angespannte Wohnungsmarktsituation als wesentliche Triebkraft. In vielen deutschen Städten sind bezahlbare Mietwohnungen knapp, während gleichzeitig Sozialwohnungen seit Jahrzehnten abgebaut wurden. Zwischen 1990 und 2022 schrumpfte der Bestand an Sozialwohnungen von etwa 3 Millionen auf unter 1 Million Einheiten.
Hinzu kommen individuelle Krisen: Mietschulden, Krankheit, Trennung, Arbeitsplatzverlust oder Suchtproblematiken können den Verlust der Wohnung auslösen – vor allem, wenn kein soziales Netz auffängt. Besonders prekär ist die Lage für Menschen mit geringen Einkommen, Alleinerziehende, Rentner*innen oder Geflüchtete. Laut Wohnungslosenhilfe-Verbänden sind mehr als zwei Drittel der Betroffenen Männer, doch der Anteil wohnungsloser Frauen nimmt zu – oft unsichtbar, weil sie häufiger bei Bekannten unterkommen („verdeckte Wohnungslosigkeit“).
Rechtlicher Rahmen: Mieterschutz & Mietrecht
Das Mietrecht bietet einige Schutzmechanismen, um die Kündigung einer Wohnung oder deren Vollzug abzumildern. Dazu zählt unter anderem die sogenannte Sozialklausel (§ 574 BGB), die Mieter*innen erlaubt, der Kündigung eines Vermieters aus sozialen Gründen zu widersprechen – etwa bei Krankheit, hohem Alter oder bevorstehendem Schulabschluss der Kinder. Allerdings greift dieser Schutz nur bei ordentlichen Kündigungen und wird in der Praxis selten erfolgreich durchgesetzt.
Ein weiteres Instrument ist die sogenannte Schonfristzahlung gemäß § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB. Sie ermöglicht Mieter*innen, eine fristlose Kündigung wegen Mietrückständen durch Zahlung aller Rückstände innerhalb von zwei Monaten nach Klageerhebung abzuwenden. Diese Regelung hat vielen Menschen bereits das Zuhause gerettet – doch sie greift nur bei fristlosen, nicht aber bei ordentlichen Kündigungen. Das hat der Bundesgerichtshof 2023 ausdrücklich bestätigt. In der Praxis führt dies dazu, dass Vermieter gleichzeitig fristlose und ordentliche Kündigungen aussprechen – selbst wenn die fristlose aufgehoben wird, bleibt die ordentliche bestehen. Für Betroffene bedeutet das: trotzdem Wohnungsverlust.
Reformpläne: Ausweitung der Schonfristzahlung
Um diese Schutzlücke zu schließen, will Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD) die Schonfristzahlung auch auf ordentliche Kündigungen anwenden – allerdings begrenzt auf Einzelfälle mit sozialer Härte und nur einmalig pro Mietverhältnis. „Es kann nicht sein, dass jemand seine Schulden begleicht und trotzdem auf der Straße landet“, so Hubig im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Die Reform ist im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Union in Rheinland-Pfalz verankert, findet aber auch auf Bundesebene Zustimmung.
Sozialverbände wie der Deutsche Mieterbund (DMB) und die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) begrüßen diesen Schritt. Sie berichten regelmäßig von Fällen, in denen Menschen nach Zahlung ihrer Schulden dennoch zwangsumgesiedelt wurden – oft mit dramatischen Folgen wie Jobverlust, Schulabbruch oder Verschuldung. Auch das Hamburger Modell, bei dem Fachstellen für Wohnungsnotfälle durch gezielte Beratung und Zahlungsvermittlung eine Schonfristzahlung ermöglichen, gilt als vorbildlich: In über 70 Prozent der begleiteten Fälle konnte der Wohnungsverlust verhindert werden.
Doch es gibt auch Kritik. Eigentümer- und Vermieterverbände warnen vor einem „Eingriff ins Eigentumsrecht“ und sehen die Gefahr, dass Mieter*innen weniger Zahlungsdisziplin zeigen könnten. Es sei wichtig, das Gleichgewicht zwischen Mieterschutz und Vermieterinteresse nicht zu kippen. Dennoch: Angesichts steigender Zahlen von Zwangsräumungen sprechen sich auch Gerichte zunehmend für präventive Regelungen aus.
Housing First: Ein Blick nach Finnland
Ein Vorbild in der Bekämpfung von Wohnungslosigkeit ist Finnland. Das Land verfolgt seit über zehn Jahren das „Housing First“-Prinzip – mit durchschlagendem Erfolg. Statt Betroffene erst durch Notunterkünfte und soziale Stufenprogramme zu schleusen, stellt Housing First dauerhaft eigene Wohnungen zur Verfügung – bedingungslos, ohne Vorleistung. Erst im Anschluss erfolgen Unterstützungsangebote wie psychosoziale Betreuung, Schuldnerberatung oder Suchthilfe.
Das Ergebnis: Zwischen 2008 und 2022 sank die Zahl der obdachlosen Menschen in Finnland um mehr als 65 Prozent. Heute gilt das Land als das einzige EU-Mitglied, das Wohnungslosigkeit systematisch abbaut. Studien belegen, dass das Modell nicht nur sozial, sondern auch ökonomisch sinnvoll ist: Die Einsparungen bei Polizei, Justiz und Gesundheitssystem übersteigen die Kosten der Wohnungsvergabe. Auch in Deutschland gibt es erste Pilotprojekte, etwa in Düsseldorf, Hannover oder Berlin – doch bislang fehlen flächendeckende Konzepte und Wohnungen.
Weitere Maßnahmen und Forderungen
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe fordert ein ganzes Maßnahmenpaket zur Verhinderung von Obdachlosigkeit. Neben der Reform der Schonfristzahlung gehören dazu unter anderem:
- Ein Kündigungsmoratorium bei Energieschulden und Mietrückständen in besonderen Krisenzeiten.
- Ein bundesweiter Mietenstopp in angespannten Märkten.
- Die Einführung eines Frühwarnsystems, das Kommunen verpflichtet, bei Mietschulden aktiv zu werden, bevor es zur Kündigung kommt.
- Der massive Ausbau des sozialen Wohnungsbaus mit einem klaren Ziel: jährlich mindestens 100.000 neue Sozialwohnungen.
Erfolgreiche Beispiele finden sich in mehreren Kommunen. So betreibt etwa die Diakonie in Stuttgart gemeinsam mit der Stadt ein Kooperationsmodell, bei dem Sozialarbeiter*innen systematisch mit Wohnungsunternehmen kommunizieren, um drohende Wohnungsverluste frühzeitig abzuwenden. In Hamburg wurden eigens „Fachstellen für Wohnungsnotfälle“ eingerichtet, die aktiv mit Amtsgerichten und Vermietern arbeiten. Das Ergebnis: Eine signifikante Reduzierung von Zwangsräumungen.
Ausblick & Handlungsempfehlungen
Die geplante Ausweitung der Schonfristzahlung ist ein wichtiger Schritt, um soziale Härtefälle abzufedern. Doch sie reicht nicht aus, um Obdachlosigkeit systematisch zu verhindern. Es braucht einen Dreiklang aus präventivem Mieterschutz, aktivem Wohnungsbau und sozialer Begleitung. Ein bundesweit einheitliches Frühwarnsystem könnte dazu beitragen, Wohnungsverluste rechtzeitig zu erkennen – bevor es zur Kündigung kommt. Gleichzeitig müssen die Gerichte mit sozialen Aspekten vertraut gemacht werden, um Kündigungsschutzklauseln wirksam anzuwenden.
Langfristig führt an einem „Housing First“-Ansatz kein Weg vorbei. Die internationale Erfahrung zeigt, dass nur durch unmittelbare Sicherung der Wohnverhältnisse echte Teilhabe und Stabilität erreicht werden kann. Die Wohnung ist keine Belohnung – sie ist die Voraussetzung für alles Weitere.
Von Housing First lernen
Obdachlosigkeit ist kein persönliches Versagen, sondern oft das Resultat struktureller Defizite. Das Mietrecht kann ein wirksames Werkzeug sein, um drohenden Wohnungsverlust zu verhindern – doch es muss fortentwickelt werden. Die geplante Ausweitung der Schonfristzahlung schließt eine zentrale Schutzlücke und verdient politische Unterstützung. Gleichzeitig braucht es langfristige Investitionen in bezahlbaren Wohnraum, soziale Infrastruktur und kommunale Netzwerke. Deutschland kann von Modellen wie Housing First lernen – und den Anspruch erheben, dass niemand auf der Straße leben muss.