Funktionserweiterung der Innenstädte: Mehr als nur Konsum, Gastronomie und Verwaltung

lebendige innenstadt

Innenstädte stehen heute unter massivem Transformationsdruck. Die klassischen Funktionen – Einzelhandel, Gastronomie und Verwaltung – reichen längst nicht mehr aus, um die Zentren attraktiv, belebt und zukunftsfähig zu halten.

Der Strukturwandel im Handel, der Bedeutungsgewinn digitaler Plattformen sowie die Corona-Pandemie haben die Schwächen eines monofunktionalen Innenstadtverständnisses schonungslos offengelegt. Was folgt, ist ein Paradigmenwechsel: Die Innenstadt von morgen muss mehr bieten – Räume für Bildung, Kultur, Wohnen, Freizeit, Begegnung und Teilhabe. Sie soll wieder das Herz urbanen Lebens sein – nicht nur Shopping-Meile, sondern Lebensraum.

Ladensterben und Leerstand als Symptom einer überkommenen Nutzungsidee

Ein zentrales Problem heutiger Innenstädte ist das Ladensterben. Der Handelsverband Deutschland (HDE) prognostiziert, dass bis 2030 rund 64.000 Einzelhandelsgeschäfte bundesweit schließen könnten. Besonders betroffen sind Mittel- und Kleinstädte. Die Ursachen sind vielfältig: Der Vormarsch des Onlinehandels, verändertes Konsumverhalten, gestiegene Mieten sowie mangelnde Innovation bei klassischen Handelskonzepten. Leerstehende Schaufenster prägen zunehmend das Bild vieler Zentren.

„Wir haben in vielen Städten funktionale Schieflagen, weil Innenstädte zu lange als reine Einkaufs- und Bürozentren gedacht wurden“, erklärt Michael Stahnke, Referent beim Deutschen Städtetag, im Interview mit dem Saarländischen Rundfunk (SR.de, Juni 2024). „Heute müssen wir sie als lebendige Quartiere verstehen, die viel mehr können als Handel.“

Innenstadt neu denken: Vielfalt statt Monostruktur

Das klassische Dreigespann aus Konsum, Gastronomie und Verwaltung genügt nicht mehr. Innenstädte der Zukunft brauchen multifunktionale Strukturen. Studien des Deutschen Städtetages und der Industrie- und Handelskammern (IHK) fordern eine Stärkung weiterer Funktionen: Bildungseinrichtungen, soziale Dienste, Freizeitangebote, Kulturinstitutionen, Wohnen und medizinische Versorgung. Nur durch diese Vielfalt lässt sich eine nachhaltige Belebung erzielen.

Ein besonders plakatives Beispiel für Monostruktur liefert die Stadt Heilbronn. Dort kam es zur auffälligen Ballung bestimmter Betriebstypen – insbesondere Dönerläden, Nagelstudios und Handyshops. Die Stadtverwaltung reagierte mit städtebaulichen Konzepten zur Steuerung der Nutzungsvielfalt. „Wir wollen keine Verbote, sondern Anreize für neue Funktionen schaffen“, betont Oberbürgermeister Harry Mergel (SPD) in einem Interview mit der Welt (Januar 2025). Ziel sei es, mehr Bildung, mehr Wohnen und mehr Kultur in die Innenstadt zu bringen.

Neue Funktionen für die Innenstadt

Wohnen im Zentrum – Zurück zur urbanen Lebenswelt

Wohnen in Innenstädten erlebt eine Renaissance. Lange galt das Zentrum als Ort des Arbeitens und Einkaufens, nicht des Lebens. Doch das ändert sich. In Kassel etwa wurden leerstehende Obergeschosse ehemaliger Sportgeschäfte zu günstigen Wohnungen und Ateliers umgewandelt. Auch Kommunen wie Leipzig, Nürnberg oder Münster investieren zunehmend in Wohnprojekte mitten in der Innenstadt. Dabei profitieren nicht nur Mieter, sondern auch der Einzelhandel – denn wer vor Ort lebt, kauft auch lokal ein.

Kultur und Bildung als Belebungsanker

Museen, Theater, Bibliotheken und Bildungseinrichtungen ziehen Menschen an, schaffen Aufenthaltsqualität und fördern Identifikation. In Wuppertal wurde ein leerstehendes Warenhaus zu einem soziokulturellen Zentrum mit Werkstätten, Proberäumen, Ausstellungsflächen und einer Volkshochschule umgebaut. Die Besucherzahlen übertrafen bereits im ersten Jahr die Erwartungen.

Auch Hochschulen denken zunehmend urban: Die TH Köln oder die Uni Mannheim verlagern Teilbereiche gezielt in Innenstadtlagen, um Wissen und Innovation ins Zentrum zu bringen. Solche Bildungsimpulse stärken die soziale Durchmischung und fördern neue Zielgruppen in der City.

Zwischennutzung und Kreativräume

Zwischennutzungen gelten als besonders dynamisch. Pop-up-Stores, temporäre Ateliers, Makerspaces oder Urban Gardening-Initiativen beleben brachliegende Flächen kurzfristig – mit oft großem Echo. Die Stadt Köln experimentiert mit solchen Modellen im Rahmen des Projekts „Stadtlabor“, bei dem Flächen flexibel an Kulturakteure und Start-ups vergeben werden. Auch Dortmund und Aachen haben ähnliche Formate etabliert.

„Mediterranisierung“ des öffentlichen Raums

Mit der Pandemie kam ein Trend stärker denn je zum Vorschein: Der Wunsch nach Aufenthaltsqualität im Freien. Die sogenannte „Mediterranisierung“ – also die Aufwertung des öffentlichen Raums durch Außengastronomie, Begrünung, temporäre Sitzecken oder urbane Strände – gewinnt an Bedeutung. Städte wie Freiburg oder Tübingen schaffen gezielt solche Angebote, um Begegnungsräume zu fördern.

„Es geht um mehr als nur Verweilen. Wir schaffen öffentliche Wohnzimmer“, sagt Stadtentwicklerin Anna Bräuninger aus Freiburg. Der Erfolg lässt sich in Zahlen messen: Die Verweildauer in der Innenstadt stieg um 18 % innerhalb eines Jahres.

Die Rolle digitaler und hybrider Konzepte

Digitalisierung ist kein Selbstzweck, aber ein wichtiges Werkzeug für lebendige Innenstädte. Augmented-Reality-Routen, lokale Online-Marktplätze, Click-&-Collect-Services oder smarte Besucherlenkung erhöhen die Attraktivität – insbesondere für jüngere Zielgruppen. Das Projekt „Digitale Innenstadt“ der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen zeigt, wie Passanteninformationen, Parkplatzbelegung und Eventhinweise in Echtzeit kommuniziert werden können.

Zudem entstehen neue hybride Orte: So kombinieren Lifestyle-Kaufhäuser wie „Glore“ in Nürnberg oder „The Box“ in Berlin nachhaltige Mode mit Gastronomie, Vorträgen und Yoga-Kursen. Der Shoppingtrip wird so zum urbanen Erlebnis.

Zielgruppen differenziert ansprechen

Die Anforderungen an Innenstädte sind so vielfältig wie ihre Nutzergruppen. Jüngere Zielgruppen wie die „Generation Z“ suchen Erlebnis, Nachhaltigkeit und Social Media-taugliche Orte. Ältere hingegen wünschen sich Sicherheit, Barrierefreiheit und medizinische Nahversorgung. Migrantische Communities legen Wert auf niedrigschwellige Treffpunkte, Bildungsangebote und kultursensible Orte.

Eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) differenziert Nutzergruppen unter dem Titel „Typologie der Innenstadtbesucher“: Während „Sophisticated Singles“ vor allem Urbanität, Kultur und flexible Arbeitsräume schätzen, bevorzugen „Routine Service Workers“ gute Erreichbarkeit, Dienstleistungen und Gastronomie. Ein erfolgreiches Innenstadtmodell muss daher Angebote für alle Milieus bereithalten.

Politische Steuerung und Förderansätze

Sofortprogramme und Fördermittel

Die Bundes- und Landesregierungen haben in den letzten Jahren zahlreiche Programme zur Innenstadtentwicklung aufgelegt. Besonders hervorzuheben ist das „Sofortprogramm zur Stärkung unserer Innenstädte“ aus NRW: Städte können leerstehende Ladenlokale anmieten und vergünstigt an neue Konzepte weitergeben – etwa soziale Initiativen, Kulturprojekte oder Start-ups. Bis zu 90 % der Miete übernimmt das Land.

Der Deutsche Städtetag forderte 2021 zudem ein Fördervolumen von 2,5 Mrd. € zur Transformation der Innenstädte – insbesondere zur Entwicklung multifunktionaler Quartiere. Im Rahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik wurden inzwischen einige Modellprojekte gefördert.

Strategisches Flächenmanagement und Regulierung

Wichtiger als punktuelle Förderungen ist langfristige Planung. Kommunen brauchen wieder mehr Einfluss auf die Nutzung ihrer Innenstadtimmobilien. Vorkaufsrechte, städtebauliche Verträge und öffentliche Grundstücksfonds sind zentrale Instrumente. Auch private Eigentümer müssen stärker in die Verantwortung genommen werden.

In Kassel beispielsweise sucht die Stadt aktiv den Dialog mit Eigentümern leerstehender Immobilien. Ziel: Nutzungsdiversität statt renditeorientierter Einheitsmieter. In mehreren Fällen konnten dadurch neue kulturelle und soziale Nutzungen entstehen.

Best-Practice: Heilbronn, Kassel und Wuppertal

  • Heilbronn: Steuerung der Geschäftsstruktur durch städtebauliche Vorgaben und Förderung von Bildungseinrichtungen im Zentrum.
  • Kassel: Erfolgreiche Umnutzung eines Sportgeschäfts zum Kultur- und Bildungszentrum durch aktive Einbindung der Eigentümer.
  • Wuppertal: Kreativquartier im ehemaligen Kaufhaus – gemischte Nutzung aus Werkstätten, Cafés, Seminarräumen und Ateliers.

Multifunktionale Quartiere

Die Funktionserweiterung der Innenstädte ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Monofunktionale Einkaufszonen verlieren an Relevanz – multifunktionale Quartiere gewinnen an Bedeutung. Die Innenstädte der Zukunft sind Orte des Lernens, Lebens, Arbeitens und Erlebens. Sie schaffen Raum für Kultur, Begegnung, Nachhaltigkeit und soziale Integration. Politik, Stadtplanung, Eigentümer und Zivilgesellschaft sind gleichermaßen gefordert, diese Transformation aktiv zu gestalten.

Wie Michael Stahnke vom Deutschen Städtetag treffend formuliert: „Die Zukunft der Innenstadt liegt nicht in der Vergangenheit, sondern im Mut zur Vielseitigkeit.“ Damit aus leerstehenden Schaufenstern wieder lebendige Stadträume werden.

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